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     und Foto: Stefan Jahnke

 

Leseprobe - Stille

 

Prolog

"Wie hat man den denn gefunden?"
Mein Chef sah mich mit großen fragenden Augen an. Und ich musste ehrlich zugeben, ich hatte keine Ahnung.
"Na, Strassner, dann informieren Sie sich mal!"
Und schon schob er ab, ließ mich mit dem ganzen Polizeipulk hier allein mitten im Schnee stehen.
Verflixt noch eins. Das war ja nun wirklich nicht einfach. Ich wusste: Wenn es keine plausible Erklärung dafür gab, dann war der Finder auch gleich unser Hauptverdächtiger. Kam ja öfters vor. Leider. In letzter Zeit hatte ich soundso den Eindruck, dass die Leute zwar viel schneller bei ihren verrückten Taten waren, aber dabei auch noch eine gehörige Portion schlechten Gewissens entwickelten, dass sie dann schließlich zum Handeln zwang und sie sich zwar nicht stellten, aber zumindest einen angeblichen Fund meldeten.
Schleierhaft zu alledem blieb auch noch, warum ich, als Kommissar für Wirtschaftskriminalität, nun gerade hier hinzugezogen wurde.

"Kommissar… Hallo, Kommissar Strassner… kommen Sie doch bitte. Wir haben ihn ausgegraben und Möller ist auch schon soweit!"
Oh, ich kann ihn schon leiden, aber seinen Job möchte ich nicht einmal geschenkt haben! Verdammt… Immer an den Toten herumschnipseln. Selbst dann, wenn vielleicht kaum noch etwas davon übrig ist. Nicht meine Welt.
Nun, ich muss hin, muss mir diesen Fund anschauen.

Holger drückt mir eine Brieftasche in die Hand.
"Hatte Conradi vorhin schon gefunden. Darum sind wir hier!"
Ah, Conradi… konnte ihn gar nicht entdecken. Versteckte sich wohl drüben am Teewagen? Na, bei diesen Temperaturen kein Wunder.
Ich fingere an dem Lederding herum. Kaum Bargeld. Braucht man vielleicht nicht im Waldpark. Da geht man eigentlich spazieren. Nur ein paar Kontoauszüge stecken drin. Und ein Ausweis.
Vorsichtig ziehe ich beides heraus. Gar nicht so einfach bei diesen Temperaturen und den dünnen Handschuhen aus Gummi.
Hmm… nun, das mit dem Bargeld kann daran liegen, dass er einfach ein hoffnungslos überzogenes Konto hat. Ein vierstelliger Minusbetrag. Gut, in diesen Krisenzeiten nicht unbedingt eine große Sache… aber…
Dann fällt mein Blick auf den Ausweis.
Nein… ich schaute zweimal hin.
"Holger, ist das hier wirklich kein Irrtum?"
Ich hätte auch gleich drauf kommen können, denn auf dem Kontoauszug der Sparkasse steht der gleiche Name.
"Hat er nur seine Brieftasche verloren oder ist er das da in diesem… nun… diesem Grab?"
Er zuckte mit den Schultern und lief dahin, wo ich mich ebenso einzufinden hatte.

Auf dem Weg nach drüben, ging mir einiges durch den Kopf.
Konnte es denn sein, dass wir hier diesen Überflieger der sächsischen Kommunikationsbranche gefunden hatten, der doch schon zwei Wochen vermisst wurde und dem man bisher noch nicht einmal einen Betrugsfall anhängte… einfach nur weg und viel Wehklagen über sein doch so gutes Wesen und sein so gravierend einschneidendes Fehlen. Marcus Neder, der Vorstandsvorsitzende der Elbnet AG.
Nein, ich hatte ihn keinesfalls wegen irgendwelcher Vergehen auf dem Radar, obwohl ich schon einige Fragen an ihn hätte… gerade in Bezug auf sein so sehr starkes Engagement bei vielen recht kleinen Vereinen in Dresden, wie auch hier beim Tennis im Waldpark. Das warf sicher einige Ungereimtheiten auf. Doch eben nichts für eine wirkliche Nachforschung. Sollte sich das jetzt vielleicht ändern?

Schon stehe ich bei den Anderen. Conradi ist zu sehen.
"Ah, Strassner… na, gefunden?"
Idiot! Ich bin ja nun nicht ganz blöd. Und den Waldpark kennt in Dresden auch Jeder. Zumindest will ich das meinen. Die Gegenden der Schönen und Reichen kann man doch sogar im unteren Einkommensbereich herbeten. Anders wäre es vielleicht, wenn man einen Anwohner von hier nach den Sternhäusern in Prohlis fragen würde… Aber das tat jetzt nichts…
"Also. Er ist zirka Mitte Vierzig, gut gebaut, so knapp eins achtzig groß und hat kohlrabenschwarze Haare. Wobei seine Lage jetzt auf dem Schnee verrät, dass die wohl gefärbt sind… ähm… waren. Tot durch Ersticken, würde ich erst einmal aus den Druckstellen am Hals schlussfolgern. Kann sich aber noch modifizieren wenn ich ihn auf dem Tisch habe. Aus jetziger Sicht sag ich mal vorsichtig, dass er sich wohl selbst ausgezogen hat."
Gerade noch sah ich nur einen Kopf, einen Hals und eine Decke. Die hob Möller jetzt an und wir blickten alle auf einen bläulich verfärbten, völlig nackten Körper.
Claudia, gleich neben mir, wendete sich ab und musste sich hinter einem Busch übergeben. Conradi sah das mit einem ziemlich finsteren Blick und raunte einem seiner Leute zu, "Merkt Euch die Stelle. Das hat nichts mit dem Tatort zu tun!", und grinste mich frech an.
Na ja, wann hatten wir bei der Wirtschaft schon etwas mit Mord zu tun…?
Nein, das war eigentlich nicht unser Metier!
Ich gab Conradi einen giftigen Blick zurück, wies Holger mit einer Geste an, sich um Claudia zu kümmern und verfolgte die Sache weiter.
"Also, wenn es jetzt keine weiteren Ausfälle mehr gibt…?"
Er konnte es nicht lassen. Zu sehr hasste er wohl die vielen Erfolge, die wir bei der Wirtschaft auf uns verbuchen konnten und die ihm dann immer noch aufs Butterbrot geschmiert wurden. Gerade, wenn wir vielleicht wieder einmal einen Fall ohne Blut geklärt hatten. Aber das kam selten vor.
Ja, die Menschen sind gewalttätiger geworden. Und oberflächlicher.
Leider… man kümmert sich nicht mehr um seinen Nächsten und auch nicht um ein einzelnes Leben… wenn doch nur alles zusammen einen maximalen eigenen Gewinn ergibt. Ja, das allein zählt!

"Also, er liegt vielleicht ein, zwei Wochen hier unten. Und er scheint sich erst vor seinem Tod noch ein wenig die Fingernägel maniküren lassen zu haben. Zumindest sind sie alle akkurat, wenn auch ein wenig gewachsen. Aber das gibt es ja häufig… das Leben des Toten!"
Möller sagte es sarkastisch und alle um ihn herum lachten.
Diese alten Insidersprüche!
Außerdem war mir doch ziemlich egal, wie er sich stylte. Einzig wichtig erschien, ob er nun dieser Neder ist oder nicht.
"Na aber, Strassner… das sieht man doch. Das Gesicht hat zumindest eine ganz große Ähnlichkeit mit dem auf dem Ausweis… und ein wenig auch mit diesem Fahndungsfoto. Bekommt Ihr die denn nicht auch rüber? Der Mann wird doch schon vermisst!"
Ähnlichkeit… wie oft gab es dabei schon die verrücktesten Sachen.
Na, Conradi, vorführen lasse ich mich nun auch nicht!
"Und wie hat man ihn gefunden? Sicher durch eine unsagbar gute Polizeiarbeit, oder?"
Oh, mein Chef war zurück. Er wollte ja nur einen Tee trinken und sich die Beine vertreten. Zu kalt wäre es ihm draußen. Kann ich verstehen… bei seinem Gesundheitszustand. Aber jetzt sorgte er zumindest für eine gewisse Blässe auf Conradis Gesicht.
"Nein, Herr Hauptkommissar, das war eher ein Zufall!"
Zufall… ich musste lächeln, dachte ich doch an einen Ausspruch des Califax in den ersten Mosaikheften der Abrafaxe. ‚Ein Zufall bedeutet doch, dass einem etwas zufällt!', und schon beanspruchte er irgendeinen Auerhahn für sich. Oder ein anderes Federvieh...
Conradi deutete meine heitere Mine natürlich gänzlich anders.
"Ein Spaziergänger… der hat…"
Ich konnte es mir nicht vorstellen. Immerhin mussten die Beamten wohl an die zwei Meter tief graben. Das ist sicher kein Zufall. Oder doch? "Nun, er hatte einen guten Hund dabei. Einen sehr guten sogar!"
Warum betonte er das so?
"Kann es wohl sein, dass man uns hier ganz dolle veralbert? Welcher Hund riecht denn gut zwei Meter in die Tiefe?"
Ich konnte es mir eben nicht vorstellen. Gut, die trainierten Leichenhunde… das war sicher eine Option. Der Finder sollte jedoch ein Spaziergänger sein. Und die Fundortfotos, die mir Holger noch zusteckte… Polaroid macht's möglich… sahen nicht so aus, als wenn man ein Grab unter der geschlossenen Schneedecke vermuten konnte.
"Nun…"
Conradi ließ sich bitten.
"…manchmal haben eben auch wir Glück! Hier kam ein Mann entlang, der erst ein paar Tage auf der Goetheallee wohnt und der eben einen besonderen Hund besitzt!"
Wieder der Hund. Und ein mysteriöser Mann kam auch noch hinzu.
"Was nun?"
Mein Chef donnerte ihn an. Ich kannte ja Conradis Art. Enders jedoch, mein Chef, ließ sich so etwas nicht bieten. Schon sein Dienstrang verbot dies.
"Er hat einen Hund gekauft, als die Kollegen in München ihre Staffel mit frischem Blut besetzten. Und dann ist er nach Dresden gezogen. Aufs Altenteil sozusagen… für ihn, seine Frau… und den Hund."
Ich war noch in der Überlegungsphase, doch dann schoss es mir ein. BKA. München. Leichenhunde. Klar, die schickten ihre Hunde auch irgendwann in den Ruhestand. Damit verloren die noch lange nicht all ihre Fähigkeiten!
"Kaum zu glauben. Und der hat…?"
Conradi nickte, Enders sah mich fragend an und ich freute mich über soviel Unruhe in unseren Reihen. Nein, nicht wirklich. Manchmal war dieses Machtgerangel zwischen den Abteilungen ein reiner Kindergarten. Was soll's?
Endlich schien auch Enders verstanden zu haben.
"Na, da hatte der Kerl ja ein Glück. Entweder ein ganz cleveres Alibi oder er ist wirklich nur durch Zufall auf diese Stelle gestoßen. Wie soll das denn abgelaufen sein?"
Conradi winkte nach links und ein Beamter kam mit einem etwas gebeugt laufenden Herrn, neben dem ganz brav ein recht großer Schäferhund tappste.
"Lassen Sie es sich doch gleich vom Finder erklären. Wir machen hier inzwischen weiter!"
Eine Ohrfeige schlechthin… So wie ‚Spielen Sie ruhig noch ein wenig herum. Wir haben richtig zu arbeiten!' Enders steckte es weg und wir widmeten uns dem Mann, der nun vor uns stand.
"Nun, ich wollte nur zu meinen Enkeln. Die sind schon mit meiner Frau da hinter zum Rodelberg. Und weil ich nicht gern bei dieser Kälte rausgehe, da kam ich halt nach. Aber dann…"
Ja, er schien sich in seinem Element zu fühlen. Kein Wunder, denn nur sein Hund machte möglich, dass wir diesen Fall ‚Neder' überhaupt irgendwie weiter bearbeiten können. Und er wollte uns eine Geschichte erzählen. Die der letzten drei Tage.
"Also ich bin ja nun kein Redner, aber was gesagt werden muss, das muss natürlich auch gesagt werden!"
Er stellte sich in Position und begann, sich erst einmal vorzustellen
"Rauh, Eberhardt Rauh. Geboren in München und da immer gelebt. Bei der Mordkommission war ich zum Schluss. Und vor drei Jahren war da auch wirklich Schluss. Für mich. Denn Rente muss schließlich sein. Ganz wichtig und schön ruhig. Lebensabend eben."
Ich stellte ihn mir gerade im aktiven Dienst vor. Warum sehe ich die Bayern immer in Lederhosen und mit einem Filzhut auf dem Kopf? Ich weiß es nicht. Zumindest sah er mir für diese Kluft ziemlich mickerig aus und so stellte ich den Gedanken zur Seite.
"Also. Ehe ich so richtig aus München weg wollte… meine Frau wollte… ich nicht! Ehe ich also mit ihr nach Dresden zog, weil sie da meinte, dass wir eine ganze Menge Geld sparen können und ich ja nie so richtig viel verdient hätte, sie also auch nicht vor ihren Freundinnen mit unserer Villa angeben konnte, die wir nie hatten, da bekam ich noch Friedel."
Bedeutungsvoll sah er in die Runde. Ich hatte keine Lust, mir diese sicher noch lang werdende Geschichte weiter anzuhören, musste aber, wenn ich auf des Pudels Kern kommen wollte. Und der Pudel… ja, der Schäferhund eher… das war der Friedel.
"Friedel war ein Einsatzhund bei der Mordkommission. Zum Kommissar hat er es nicht geschafft. Aber seine gut zehn Jahre im aktiven Dienst hat er auch hinter sich und ist nun eigentlich ein recht alter Herr. Aber das tut nichts…"
Oh, man hatte Einsicht?
"Nun…"
Sicher stimmte ihn mein skeptisch gelangweilter Blick nachdenklich und er wollte zumindest versuchen, sich ein wenig zu beeilen und kürzer zu fassen.
"…wir wohnen hier drüben in so einer Dreiraumwohnung auf der Goetheallee. Nichts Besonderes, aber tolle Lage. Und… ähm… ja, die Tatsachen…"
Ich hatte ihn kurz angeblitzt.
"… ja, natürlich muss ich regelmäßig mit Friedel raus. Und was bietet sich dafür besser an, als dieser Park fast hinter dem Haus? Gut, über die Straße müssen wir auch noch. Aber gerade bei diesem Wetter ist das doch weitaus besser, als dieser zugige Weg an der Elbe da drüben entlang!"
Jetzt hatte er auch noch etwas am Wetter auszusetzen.
"Ja, und hier im Park, da ist man auch mal ganz allein. Man kann gemütlich durch die Bäume gehen, sich einen schmalen Weg suchen oder, wenn das Wetter nicht zu verrückt ist, auch mal eine der Bänke nutzen. Und wenn die Enkel kommen, dann gibt es natürlich eine Menge zu entdecken. Im Herbst erst, da haben wir diesen Spielplatz da drüben ausgiebig…"
Noch ein Blick von mir.
"…ja, aber jetzt sind die Enkel natürlich zum Rodeln da. Und weil es hier im Osten noch größere Schnäppchen geben soll, als bei uns drüben, da kamen auch die Kinder mit. Die sind den ganzen Tag unterwegs und kaufen ein… und wir haben die Enkel!"
Wann wird der Tag kommen, an dem sich Ost und West auch in den Köpfen annähern? Zumindest war dieses doch recht überhebliche Gerede nun schon soweit, dass jemand, der, um Geld zu sparen, in den Osten zog, immer noch von ‚bei uns drüben' spricht. Nun ja…
"Friedel saust immer durch den Park. Die Enkel wollen ihn dann ausschimpfen, weil er eben auch mal sein Geschäft irgendwo…"
Genau. Das war es doch, was mir bei diesen Hundebesitzern so gut gefiel… Die ließen ihre Lieblinge gern überall hinmachen und wunderten sich, wenn sie von den anderen Spaziergängern giftig angeschnurrt werden. War also dieser Rauh auch so einer!?
"Na, egal. Wir sind jedenfalls durch den Park. Vorgestern schon. Und Friedel lief überall herum. Bis…"
Sollten wir jetzt wirklich zum Punkt kommen? Ich wagte kaum, daran zu glauben. Zumindest hatte mein Chef die Nase voll und gab mir mit einem Wink zu verstehen, dass ich mir das ja anhören könne.
"Berichten Sie dann, Strassner. Ich habe noch zu tun!"
Ich glaube nicht einmal, dass dieser Rauh mitbekam, warum Enders wirklich ging.
Conradi sah aus einiger Entfernung mit schadensfroher Mine zu mir herüber und ich wusste, dass er das auch schon über sich ergehen lassen musste. Warum, zum Teufel, hatte ich nicht einfach das Protokoll angefordert? Wirklich nur, weil ich annahm, dass Conradi das sicher erst in einer guten Woche freigeben würde? Nun, wir hingen schon so lange an manchen Fällen und dieser hier war ja jetzt scheinbar erst einmal zu ende… wenn er für die Mordkommission auch erst richtig los ging. Da brauchte ich das Papier und die Aussage nicht so schnell. Aber was soll's?
"Also, wo war ich? Ja, Friedel schlug an."
Er bellte also. Toll!
"Nun, wenn ich den Hund eben nur auf einer Auktion der Polizei gekauft hätte, da wäre ich doch nie drauf gekommen. Aber weil ich so oft schon an diesen Einsätzen teilgenommen habe, da wusste ich ganz genau, wann so ein Hund anschlägt. Und er wurde nicht wieder, drehte da drüben…"
Dabei zeigte er weit von uns Richtung Südwesten.
"…immer Runden über so eine kleine Lichtung. Und ich sage zu meiner Frau, dass ich mir nur vorstellen könnte, dass er da etwas Totes riecht. Nun… und dann hat er gebuddelt. Mitten im Schnee. War ja nicht viel. Aber immerhin. Ich erinnerte mich an diesen blöden Tag, als wir in München diesen Mord auf dem Friedhof hatten und einer der Leichenhunde nicht von einem recht frischen Grab lassen konnte… das war sehr peinlich. Aber hier im Park machte ich mir nicht viel daraus. Zumal der Schnee der nächsten Tage ja alles unbedingt wieder zudecken würde. Nahm ich zumindest an. Und ich ließ ihn einfach weitergraben. War sicher auch das Gescheiteste was ich tun konnte."
Da buddelt der Hund also… nein… ich wollte nicht daran denken! Aber warum dort drüben?
"Ja, das hatte ich dann auch schnell raus und ich musste Friedel richtig zurückhalten, denn er fand bald Knochen… kleine Knochen!"
Noch mehr Knochen?
Ich wollte schon Conradi herüberrufen, doch dann hörte ich den Grund für diesen anderen Ort.
"Na, hier in der Umgebung hat man entweder ein riesiges Grundstück um sein eigenen Haus oder aber eben kein Recht, den Garten zu verunstalten… Und Kleintiere… nun, die sterben ja nicht gerade selten. Wenn ich an die Hamsterscharen denke, die allein in den zehn Jahren abkratzten, als meine Jungs sich für die Viecher interessierten… Jo mei!"
Kleintiere… ich dachte an den Friedhof der Kuscheltiere aus dem gleichnamigen Film. Grausig. Vielleicht auch ein guter Ort. Und Kinder müssen nun einmal zeitig den Umgang mit dem Tod lernen. Gut, wenn sie es nicht gleich anhand verstorbener Familienmitglieder erleben. Bei Tieren ist es da meist besser, es kommt ihnen verständlicher, nachvollziehbarer vor. Und der Schmerz hält nicht ewig.
"Da hatte Friedel wohl eine Wiese für diese kleinen Pets entdeckt. Und nun musste ich dafür sorgen, dass der Hamster oder eben dieses kleine Viech, was er da ausbuddelte, auch wieder in die Erde kam. War nicht einfach. Und…"
Gut nun… es reicht. Der erste Tag war also eine Lachnummer. Und weiter?
"Ja, an den nächsten Tagen versuchte ich dann, Friedel an dieser Lichtung vorbeizubekommen ohne dass er nun gleich wieder zu buddeln begann. Aber das klappte erst einmal schlecht. Und als dann heute die Enkel kamen und meine Frau meinte, dass sie unbedingt in den Waldpark zum Rodeln müssten und ich mitkommen sollte… nun, das ist eben nicht mein Ding. Zumal meine Frau dann immer so eine gewisse Ader entwickelt, die alle Umstehenden zur Weißglut treiben kann… aufdringlich und nur auf die Kinder fixiert, diesen dabei mächtig auf die Nerven gehend… Nun ja… meine Frau eben!"
Oh, grieselt es da im edlen Münchner Ehegebälk?
"Ja, und dann musste ich eben doch mit. Zum Glück erst später. Sie kennen die Überzeugungskraft der Frauen…? Na, und dann…"
Irgendwie war ich müde. Ich hasse es, wenn ich eine riesige Story erzählt bekomme und doch nicht weiß, was eigentlich los ist.
"Also, Herr Rauh, was ist denn nun geschehen? Lassen Sie mich raten… Friedel konnte es nicht lassen und rannte wieder an eine Stelle zum Bellen?"
Rauh sah mich entgeistert an.
"Woher wissen Sie…?"
Na, das war ja nun wirklich nicht so schwer zu erraten, oder? Zumal man diesen Neder wohl irgendwie gefunden haben musste. Nur blieb für mich schleierhaft, wie es diese trainierten Hunde machen, Leichen durch so eine docke und auch noch gefrorene Erdschicht zu riechen.
"Ja, Friedel machte sich am Rodelberg vom Acker. Sophie sollte auf ihn aufpassen, tat es aber nicht. Und dann sah ich schon, wie er die Vorderbeine einstemmte und zum Bellen ansetzte. Verrückte Sache. Und er wollte gar nicht mehr ruhig werden. Die Leute schauten schon ganz böse… so, wie die da, die jetzt nicht rodeln können!"
Ich sah mich um. Ja, da standen ein paar Kinder mit ihren Eltern am rot-weißen Absperrband, und alle schauten mehr als nur traurig. Zumal es die Kollegen von der Mordkommission bisher versäumten, die Leiche wieder vollends abzudecken. Unschöner Anblick, gerade für die Kinder. Mein Blick, den ich Conradi zuwarf, sprach wohl Bände, und heute zumindest das erste Mal, sauste er los und gab ein paar wütend herausgepresste Befehle.
Na ja, der beruhigt sich schon wieder. Zumindest reichte es dazu, dass nun ein schwarzer, langgestreckter und zum Leichenwagen umgebauter Mercedes älteren Baujahrs über die Huckelpiste zum Fundort der Leiche fuhr und sich zwei ebenso in Schwarz gekleidete Mitarbeiter eines renommierten Bestattungshauses der Stadt um Neder und das, was von ihm noch da war, kümmerten.
"Oh, die Kinder!" Ich sah eine Frau in einem beigefarbenen Pelzmantel mit zwei Kindern und einem Schlitten davongehen. Laut schimpfte sie auf Gott und die Welt.
"Ja, meine Frau. Die meckert immer!"
Frau Rauh. Nun, dann konnte ich ein paar Dinge verstehen. Auch fragte ich mich, warum sie mit den Kindern noch hier war? Und warum zog sie nun gerade ab, als der Leichenwagen davonfuhr? Wollte sie, dass die Kinder sahen, was hier geschah? Keine Ahnung. Inzwischen schien bei denen wohl wirklich alles möglich!
"Ja, Friedel bellte also…", versuchte ich Rauh wieder auf die Sprünge zu helfen. Er besann sich kurz und setzte fort.
"Keine Ahnung, wie lange er schon bellte. Zumindest hatte er selbst wohl davon die Nase voll und begann, nun wie neulich drüben bei den Pets zu scharren. Da sehen Sie's noch. Gleich neben dem Loch!"
Warum nun wieder da? Ich überlegte… ja, irgendwo musste man Neder ablegen, ehe er in der Erde versank. Da er keinen Plastiksack mit in sein kühles Grab bekam, man ihn aber sicher nicht so nackt hierher trug, musste er irgendwo aus einem Sack oder sonstigem Behältnis herausgekommen sein. Ja, und da lag er dann also dort auf der Erde. Und Friedel roch ihn… es… die Leiche also.
Der Hund hatte also nicht zwei Meter tief gerochen.
Nun, das wäre ja eine eher unglaubhafte Geschichte gewesen! Aber man kann nie wissen! Ob nun Friedel der einzige Hund gewesen wäre, dem dieser Geruch auffallen konnte? Natürlich, keine Ahnung… Zumindest war es sicher kein Zufall, dass nun gerade ein Leichenhund den Fund machte. Das sprach Bände. Zumal... sicher war Friedel in diesem Park nicht der einzige Hund mit einer guten Nase… Vielleicht war es auch nur diese Sache mit dem Kuscheltierfriedhof, die ihn so aufwühlte... und überhaupt in diese Richtung lenkte… Nun wich ich aber ab!
"Also, Herr Rauh, Friedel fand die Stelle und wühlte. Warum haben Sie uns denn dann angerufen? Zu sehen war ja sicher nichts weiter, als eben dieser Ort mit dem Schnee und dem verrückten Hund, oder?"
Rauh schien das erste Mal während unseres Gespräches zu spüren, dass ich ihm nicht über den Weg traute, und ich merkte gleich, wie sich sein ganzer Körper zu straffen schien.
"Herr Kommissar, wenn Sie meinen, ich spinne Ihnen hier etwas vor… ich habe keinen Grund dazu. Und wie sollte ich sonst diesen nackten Kerl da entdeckt haben?"
Ich sah ihn an.
"Nun, Sie fanden doch hoffentlich nur die Stelle und haben nicht etwa noch mit einem Spaten oder so etwas im Erdreich gesucht? Das ist nämlich in Sachsen verboten, müssen Sie wissen!"
Rauh sah mich erst durchdringend, dann etwas kleinlauter werdend an.
"Nun ja… ich wollte doch wissen, was das wohl wieder ist. Zumal Friedel sich noch viel verrückter benahm, als bei diesen… diesen… eben da drüben. Und ich hatte irgendwie noch im Kopf, dass sich diese Hunde so seltsam hinlegen, wenn sie den direkten Geruch einer menschlichen Leiche riechen. Wie die das alles auseinanderhalten können? Keine Ahnung. Aber ich wollte es wissen. Und als ich dann auch noch zwei Kinder drüben hinter dem Rodelberg mit einer Schaufel spielen sah… Die wollten sich vielleicht ein Iglu bauen oder so… Da habe ich mir die einfach ausgeborgt und auch noch die Kinder mit hinzugenommen. Und als ich da nichts fand, Friedel sich aber weiter wie verrückt benahm, da kamen dann die Eltern dieser beiden Kinder, nahmen mir die Schaufel weg, meinten, mein Hund müsse an die Leine und wäre sicher eine Gefahr für alle Menschen, vor allem die Kinder ringsum und man wolle gleich die Polizei holen. Ich griff dann eben zum Handy, dachte doch… Flucht nach vorn. Das ist wohl sicher das Gescheiteste. Und wenn ich denen dann auch noch sage, dass ich Polizist im Ruhestand bin, dann werden die mich auf der sächsischen Dienststelle sicher auch ernst nehmen!"
Eigentlich nicht schlecht gedacht. Ich stand nun vor der Ablagestelle, wo der Hund vor Stunden wühlte. Natürlich versuchte er noch, mit Händen und Füßen seine Schaufelspuren zu beseitigen. Aber da er es mir gegenüber nun so genau zugab, da wusste ich, dass Conradi es längst herausgefunden haben musste und Rauh allein schon darum nun sicher eine ganze Menge Ärger bekommen konnte.
Andererseits war er behilflich beim Auffinden eines Vermissten, nun Toten.
Trotzdem… konnte man diese wilde Story von einem ausgemusterten Hund und einem ermittlungswütigen Polizisten im Ruhestand wirklich glauben? Keine Ahnung. Erst einmal war das noch nicht meine Ermittlung… sie würde sich vielleicht bald dazu entwickeln. Derzeit jedoch hatte die Mordkommission den Hut auf und ich durfte als Zaungast zuschauen.
"Wie lange dauerte es denn, bis die Polizei kam, und was haben Sie in dieser Zeit gemacht?"
Er sah mich mit einer Menge Schamesröte im Gesicht an.
"Ich habe mir fast in die Hosen ge… Nun… Ich bin dann noch einmal da rüber in das Gebüsch, damit mich nicht gleich jeder sehen kann. Aber ich musste meine Geldbörse bei einem der Väter da drüben lassen. Die hatten Angst, dass ich mich verdrücke. Und als ich dann auch noch ungünstig hinter einem Baum stand, da meinte der dann, als ich erleichtert zurück kam, er hätte einen ganz anderen Verdacht was ich mit seinem Kind machen wollte. Und er zeigte nur auf meine Hose. Peinlich. Und ich konnte es ihm nicht einmal verübeln. Leider!"
Beinahe hätte ich aufgelacht. Ich beherrschte mich und er schien das wohlwollend zu erkennen.
"Na ja. Und dann habe ich Friedel angebunden. Er wollte immer wieder an diese Stelle und ich hatte zu tun, dass er nicht noch mehr zertrampelt. Natürlich meinten diese Eltern, das ich mich nicht wie ein Bulle aufführen solle und dass sie schon wüssten, wo sie sich hinstellen konnten und wohin nicht. Nun ja. War nicht zu ändern…"
Er schniefte.
"Und als die Kollegen endlich nach einer halben Stunde eintrafen… Erst einmal nur ein einziger Streifenwagen. Noch peinlicher! …da war dann alles um die Stelle herum zertrampelt. Dann jemandem erklären zu wollen, was da vielleicht zu finden war… Nun, zumindest hatten wir Friedel. Und den ließ ich dann sehr zum Missfallen der Eltern noch einmal los. Meine Frau hatte von alledem bisher gar nichts mitbekommen. Sie zeterte nur die ganze Zeit, dass ich doch sicher wegen der Enkel und nicht für irgendwelche Plaudereien gekommen wäre. Das war mir natürlich egal. Friedel ließ mich jetzt auch nicht im Stich. Zum Glück sogar. Denn wenn die Beamten nicht gesehen hätten, dass er wieder genau an diese Stelle lief und da anschlug, sich auch kaum zur Ruhe bringen ließ, da wären sie sicher ohne nur einmal mit der Wimper zu zucken abgefahren. Für die war ich wohl ein verrückter Spinner."
Na, ich unterdrückte mal meine eigenen Gedanken. Aber ich konnte das alles jetzt schon besser nachvollziehen. Der Hund machte seinen Job. Mehr nicht. Er war sich sehr sicher. Und das schließlich rief in den Polizisten wohl eine gewisse Achtung hervor.
Dass es dann noch einmal eine Stunde dauerte, ehe das wirkliche Hauptaufgebot der Polizei eintraf und Conradi die Sache übernahm…
Zeit… ein Faktor, der sicher noch einige Probleme machen würde in diesem Fall. Ich war schon auf Möllers detaillierten Bericht gespannt. Ob der wohl wirklich die Todeszeit genauer eingrenzen konnte? Bei diesem Wetter in dieser Lage?

Ich wendete mich ab. Holger war wieder da, hatte endlich unsere Claudia wieder auf den Damm gebracht und ich gab ihnen einen kurzen Überblick. Nun wartete ich eigentlich noch auf meinen Chef. Der wollte doch dann irgendwann…
Handy. Es klingelt. Nein, es summt. Gut, dann muss ich wohl ran!
"Hallo Strassner, hier Enders. Ich bin unterwegs. Wir haben eine neue Spur in diesem Fall mit den Kühlwaggons. Da sind Papiere in Norwegen aufgetaucht. Sie wissen ja… die Verjährungsfrist läuft ab. Ich muss schnell machen. Und Sie kümmern sich um diesen Fall da mit dem Neder. Kann mir nicht vorstellen, dass sich das groß ausweitet. Wird wohl eher ein müdes Blubbern zwischen den Abteilungen werden und irgendwann erkennen Sie dann, dass wir nichts zu tun brauchen. Trotzdem... viel Glück. Ich packe jetzt und fahre noch heute Abend nach Berlin. Die Pauls hat mir eine schnelle Verbindung nach Oslo rausgesucht. Und die geht dummerweise kurz vor Elf von Berlin. Na ja… Nachtflug. Da habe ich dann morgen gleich den ganzen Tag dort zur Verfügung und bin vielleicht in drei Tagen zurück… oder später!"
Aufgelegt.
Manchmal lässt er mich ja auch zu Wort kommen. Aber ich kann seine Aufregung gut verstehen. Immerhin sind wir an diesem Fall schon gut drei Jahre dran. Und immer wieder entgleitet uns die Spur. Einfach blöd! Jetzt, nachdem wir nun schon fast jedes Bundesland in Deutschland durch haben, geht es also noch ins Ausland. Oh, ich beneide ihn. Zumal ich gern in Norwegen bin. Vielleicht nicht unbedingt im Winter. Er sprach erst einmal nur von Oslo. Das sollte machbar sein… selbst bei deren Temperaturen!

Schon bin ich der leitende Ermittler der Wirtschaft. Gut. Dann mache ich das eben allein. Zumal mir kaum Zeit bleibt, denn es türmen sich noch einige andere Hinweise auf meinem Schreibtisch. Wäre schon gut, wenn sich der Fall hier wirklich nur zur billigen Luftnummer entwickelt. Da kann ich zumindest noch vor den Ferien alles Ander angehen!

Ferien. Meine Frau meint, wir müssen einmal wieder richtig Urlaub machen. Aber wann und wie? Immer, wenn ich mich mal durchringe und schon alles steht, kommt irgendein Fall dazwischen. Und dann meint Susanne auch noch, dass ich mich nur nicht richtig bei Enders durchsetze. Bewiesen hat sie es mir zu allem Unglück auch noch. Zu blöd aber auch!
Musste sie auf der Weihnachtsfeier Gelegenheit bekommen und ihn am Buffet persönlich in die Finger kriegen? Ja, musste sie. Denn sie hatte sich wohl genau das vorgenommen.
Gegrinst hat mein Chef am nächsten Tag.
"Na, Strassner, bei ihnen führt die Frau aber ein straffes Regiment!"
Selbst Holger konnte nicht anders… Er musste lachen. Ja, gut… ich auch. Und als ich dann noch die Zusage bekam, dass ich zumindest die Winterferien voll und ganz für die Familie verplanen kann, war die Welt zuhause wieder in Ordnung.
"Die Familie muss hinter einem stehen. Sonst können wir uns nicht mit der Wirtschaft beschäftigen. Und ich sage Ihnen, Strassner, wenn die Probleme zuhause überhandnehmen, kann man alle Ermittlungen einstellen. Da fehlt einem die klare Denke. Und die braucht man bei uns weitaus mehr, als bei den Kriminalen da drüben. Die brauchen nur zu schauen… Tot oder nicht tot. Wir jedoch müssen klären, warum nicht tot. Der andere Fall ist meist klarer!"

Ja, Enders… und meine Frau.
Nein, nicht das. Aber doch eine verschworene Gemeinschaft, wenn es gegen mich geht. Und dabei war alles für die Familie. Bedeutet das jetzt, dass ich gegen die Familie…
Ich merke schon… eigentlich hat Enders Recht… Probleme… die machen nichts leichter. Eher schwerer!

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